Persönlichkeitsentwicklung
31. Dezember 2010

Das Gefängnis des Lebens

Von
 

Es war einmal eine Frau, oder war es ein Mann, das ist nicht so genau überliefert. Jedenfalls saß sie oder er im Gefängnis. Das Gefängnis war berüchtigt, viele dort glaubten lebenslänglich zu haben. Das Leid darin war immens, was sage ich – es war die Hölle selbst.

Dabei war Vieles unklar.

Keiner konnte sagen, wie genau dieses Gefängnis aussah. Manche sagten, es hätte vier Wände und sei quadratisch, andere glaubten an rechteckig. Wieder andere sagten, dass es aus 5, 6, 7 oder mehr Wänden bestand, ganz Verwegene glaubten sogar, dass es rund sei.

Jeder von ihnen kannte nur seine eigene Zelle. Nichtmal der Nachbar war bekannt, obwohl es sehr, sehr viele Zellen-Nachbarn gab.

Es war auch nicht bekannt, woraus die Zellenwände eigentlich bestanden. Allen war aber klar, es müssten sehr, sehr dicke Wände sein. Man konnte sie nicht direkt sehen, weil jeder Zelleninsasse schon sehr früh gelernt hatte, die Wände zu verkleiden.

Die Verkleidung war immer ähnlich. Sie bestand aus Papier, welches von einem Rahmen aus Pappe gehalten wurde. Manch einer hatte dieses Papier kunstvoll verziert, andere hatten vermeintlich geistvolle Sprüche darauf verewigt, bei wieder anderen blieb es so wie es war.

Auch wusste keiner genau, wovon sich die Gefängnisinsassen ernährten. Gerüchte gingen um. Alle hatten gemeinsam, dass es irgendetwas mit Angst zu tun haben musste. Angstsuppe, Angstbrot, Angstbraten, Angstnachtisch.

Hartnäckig hielt sich das Gerücht, dass es bestimmte nährende Angstgedanken und Angstphantasien sein sollten. Ein paar wurden bei späteren archäologischen Ausgrabungen gefunden, man konnte sie aber nicht mehr so recht einordnen: „Ich muss hier sitzen, weil ich nicht gut genug bin.“, „Ich sitze hier, weil ich wertlos und unnütz bin.“, „Ich sitze hier drinnen, weil ich es Mutter und Vater nicht recht machen konnte.“, „Ich sitze hier, weil ich nie genug Leistung gebracht habe.“, „Ich sitze hier ein, weil ich nicht würdig bin, einen Partner zu finden.“, „Ich sitze hier ein, weil ich so böse bin, so schlecht bin, weil andere Alles immer besser machen.“

Dann gab es noch einen ganzen Stapel von Papieren, die leider angekokelt waren, man konnte nur noch lesen: „Ich bin im Gefängnis, weil…“.

Die Erbauer des Gefängnisses waren strenge Menschen – manchmal haltlose Menschen, manchmal auch Menschen, die sich nur verirrt hatten. Es waren ein paar Sadisten dabei, ein paar besonders strenge Moralhüter, ein paar Utopisten.

Viele Hilflose und Orientlierungslose waren darunter, die sich vom Anlehnen an das Gefängnis Halt und Stütze erwarteten.

Noch mehr waren dabei, die keinen eigenen Sinn im Leben gefunden hatten, nun aber feste an das Gefängnis als Sinn ihres Lebens glaubten.

Mütter und Väter waren darunter, Onkel, Tanten, Großmütter und Großväter, Geistliche (jedenfalls glaubten sie, voller Geist zu sein) und Geistlose, Politiker und Werbestrategen (es war nicht klar, welche Gruppe die schlimmere war), Lehrerinnen und Lehrer, Leererinnen und Leerer.

Man konnte sogar Gefängnisbau studieren. Sie werden es kaum glauben, es gab sogar einen Studiengang zum perfekten Gefängnisinsassen – der Diplom-Einsitzer.

Naja, und viele andere waren auch noch dabei, vielleicht haben Sie ja noch den ein oder anderen gekannt, damals.

Die Landschaft rund um das Gefängnis war ganz normal. Die einen nannten sie lieblich und schön. Die anderen fanden sie nicht heiß oder kalt genug, sahen zu viele oder zu wenig Bäume, empfanden zu viel oder zu wenig Grün, sahen zu viele oder zu wenige Häuser, Straßen und Ähnliches.

Immer konnte man Vögel hören, wenn man sich traute zu hören. Immer gab es wunderschöne Blumen anzuschauen, wenn man sich traute zu schauen. Vielen netten Menschen konnte man begegnen, wenn man sich traute jemandem zu begegnen.

Man konnte herrlich langsam sein, wenn man sich traute langsam zu sein. Man konnte sogar zufrieden und glücklich sein, sich in seinem Körper und Geist wohl fühlen, Frieden empfinden – wenn man sich das traute.

Sogar Mitgefühl und liebevolle Güte waren möglich, wenn man sich das traute. Man konnte aber auch rennen, blind, taub und geschmack- und geruchlos sein, nichts fühlen, wenn man das vorzog. Es war eben eine ganz normale Landschaft.

Von dieser Landschaft bekamen die Insassen nicht viel mit. Sie saßen ja hinter ihren Papiergefängniswänden, hinter denen man die dicken anderen Wände erinnerte.

Nun gab es eine Gefängnisreform. Das mauerlose Gefängnis wurde erfunden. Dies aber nur für die Insassen, die schon lange genug gesessen hatten, etwa von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter.

Es war die Revolution im Gefängnisbau. Stück für Stück wurden die Wände abgebaut, manche fielen auch von selbst zusammen. Alles geschah ganz leise, damit die alten Insassen nicht gestört wurden. Sie waren schließlich die guten alten Gefangenen.

Als alles abgetragen war, standen nur noch die Papierwände. Die hatten die Gefangenen schließlich selbst gebaut. Der Slogan dazu lautete: Die Papiermauern der Gefangen sind unantastbar. Und so saßen die weiter und weiter und weiter.

Nicht wenige hatten schließlich lebenslänglich, viele sogar von sich selbst bekommen. Die meisten hatten gar nicht gemerkt, dass die äußeren Mauern durch die Gefängnisreform abgetragen worden sind. Sie glaubten weiterhin an die Dicke ihrer Mauern hinter dem Papier.

Nur der Insasse Nr. 0816, oder war es die Insassin Nr. 0814?, stand auf, schob das Papier zur Seite und ging.

Sie oder er hatte sich einen neuen Auftrag gegeben: Achtsam leben in der Landschaft und im Hier und Jetzt. Ebenfalls lebenslänglich.

Den Gerüchten nach wurde er oder sie glücklich und frei dabei, lebte von da an in tiefem inneren Frieden.

Okay, der Schluss ist kitschig. Aber vielleicht kennen Sie ja auch noch den ein oder anderen, der damals einfach aufgestanden ist, die Papierwand zur Seite schob und einfach ging.

Schreiben Sie diese Geschichte doch einfach selbst nieder, falls Ihr Alltag im Papiergefängnis Ihnen dazu Zeit lässt. Ich bin dann mal weg.

 

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