Minimalismus
8. Juni 2011

Minimalismus und Maximalismus

Von Alexander Rubenbauer, Nürnberg
 

Vor einigen Tagen hatte ich eine angeregte Diskussion mit einem “Kritiker”, der die Ansicht vertrat, dass meine entspannte Definition von Minimalismus nicht weit genug gehe – oder, um es so zu sagen, nicht extrem genug ist. Seine Ansicht, kurz gefasst: Ein Minimalist muss allem entsagen, sonst ist er kein richtiger Minimalist.

Ich habe aber erkannt, dass Extreme nichts Gutes bringen – in keiner Hinsicht. Zwar würde ich ein Leben als asketisch lebender Mönch eher vorziehen als das Leben in einer Messie-Wohnung, aber ich versuche immer, den “Weg der Mitte” zu gehen. Was ich tue muss auf irgendeine Weise Sinn ergeben und nicht nur deshalb getan werden, weil irgendjemand gesagt hat, dass es sich so gehört.

So hat es auch etwas Mut gebraucht, die “offizielle Definition” der amerikanischen Vorreiter ganz einfach nicht zu akzeptieren, die da lautet: Ein Minimalist ist jemand, der mit weniger als 100 Dingen lebt. Und trotzdem tricksen diese Leute, zählen einen Haufen Socken nur als eine Sache und haben 100.000 Fotos auf Ihren Festplatten. Das ist Kinderkram.

Im Leben hat alles zwei Seiten. Man kann nicht eine Sache erhöhen, ohne gleichzeitig etwas Anderes zu verringern und umgekehrt.

Wenn ich als Minimalist etwas minimiere, um an Freiheit und Lebensfreude zu gewinnen, dann maximiere ich gleichzeitig etwas. Wenn ich also ein Minimalist in Sachen Krempel und Ballast bin, bin ich ein Maximalist in Bezug auf Lebensfreude und Einfachheit.

Man kann gar nicht “nur” reduzieren. Wer Minimalisten dazu auffordert, kein Geld mehr zu haben und selbst auf die Dinge zu verzichten, aus denen er seine Lebensfreude zieht, dann erhöht man am anderen Ende eben die Depression. Man kann nie das eine ohne das andere haben.

Ich wurde auch mal gefragt, warum ich überhaupt Texte ins Internet schreibe. Simple Antwort: Weil es mir Spaß macht und weil auch andere Menschen davon profitieren. Natürlich kann ich es unterlassen, aber es stellt für mich keinen Ballast dar und für andere auch nicht (ich dränge mich schließlich nicht auf).

Wer um der Reduzierung Willen reduziert, der kann sich auch direkt einsargen lassen. Das ist dann wohl die minimalistischste Variante. Darum meine Bitte: Gehen Sie den Weg der Mitte und machen nicht alles so kompliziert! Es gibt keine Regeln, es gibt keine übergeordnete Instanz, die vorschreibt, was und wie viel davon Sie besitzen dürfen.

Natürlich verstehe ich das Argument: “Wieso soll sich ein Millionär mit teurem Appartement in der Innenstadt Minimalist nennen dürfen? Das kostet doch maximal Geld!”

Stört ihn das Bankkonto? Stört ihn das Appartement? Das Bankkonto wird ihm Freiheit geben (für Reisen und Ähnliches) und das Appartement gibt ihm Lebensfreude und ein schönes Zuhause. Das Appartement ist aber frei von Ballast. Er hat nur das drin, was er braucht (sehr wenig), und genau das macht ihn zum Minimalisten.

Wenn er sich vom Geld belastet fühlt (und ja, manche tun das), dann sollte er sich davon trennen, um sich selbst weiterhin als Minimalist treu zu sein. Nicht irgendjemand anderem muss er treu sein, sondern nur sich selbst. Ich kann nicht in seinen Kopf schauen und sehen was für ihn wesentlich ist und was ihn erfüllt. Das muss jeder selbst wissen. Minimalismus ist eine individuelle Angelegenheit.

Muss ein Minimalist auf ein Auto verzichten? Wenn er es braucht oder Freude daraus zieht: nein. Muss ich mir das Leben unglaublich schwer machen, indem ich hunderte Kilometer zu Fuß gehe, weil es die minimalistischste und konsumkritischste Art der Fortbewegung ist? Nein, denn in Wahrheit bedeutet das maximalen Aufwand.

Muss ich mir selbst Gemüse anbauen, statt es im Laden zu kaufen? Nein. Auch das wäre maximaler Aufwand. Es sei denn, ich ziehe daraus Lebensfreude und genieße diese Art von “Einfachheit”. Auch hier gilt: Für mich ist etwas anderes “einfach” als für jemand anderen.

Die Grenze zieht man dort, wo der Überfluss beginnt und wo es nicht mehr für einen selbst wichtig ist. Dinge, die für unser Leben – wie wir es gerne leben möchten – nicht essentiell sind, lassen wir weg.

Ich würde eine Mietwohnung einem Haus mit tonnenschwerer Hypothek vorziehen. Und genauso wenig wie ich eine Yacht brauche, die ich nicht mal eben loswerden kann und die für minimalste Zusatzfreude maximalen Aufwand kostet, brauche ich mehrere Autos. Dann doch lieber etwas, das maximal Freude bringt und nur minimal kostet.

Niemand hat gesagt, dass Minimalisten allem entsagen müssen und ihr Leben nicht mehr genießen dürfen. Ich sehe Minimalismus noch nicht einmal als pauschale Konsumkritik, sondern lediglich als Kritik an einem ungesunden Lebensstil, weil wir den Überfluss “brauchen”, um uns abzulenken von dem, was unseren Herzen in Wirklichkeit fehlt, wie zum Beispiel gute Beziehungen.

Manchmal brauchen wir den Überfluss auch garnicht, aber es hat uns noch niemand aufgeweckt und gesagt, dass es keine Pflicht dazu gibt, immer mehr Stauraum schaffen zu müssen und immer mehr Dinge anzuhäufen. Die meisten Menschen sind einfach noch gar nicht auf die Idee gekommen, dass man Dinge aus seinem Leben entfernen kann – selbst wenn diese noch keinen Schimmel angesetzt haben.

Weniger Dinge haben und diese dafür mehr genießen ist ein Anfang. Sich bewusst zu werden, was einem wirklich fehlt (und das ist garantiert nichts Materielles, wenn Sie gerade in einem Industrieland vor einem Computer sitzen und diesen Text lesen) erfordert Mut, ermöglicht einem aber, an der Verwirklichung zu arbeiten. Und das kann Ihr Leben komplett zum Positiven verändern.

 

Über den Autor
Alexander Rubenbauer ist Psychologe (M. Sc.) und Psychologischer Psychotherapeut.

 

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