Persönlichkeitsentwicklung
14. Juli 2015

Leserzuschrift: Machen Sie sich verletzlich

Von
 

Ich habe in Machen Sie sich verletzlich einen für dieses Thema offensichtlich zu kurzen und dadurch zu missverständlichen Text veröffentlicht, zu dem ich die nachfolgende Leserzuschrift erhalten habe, die ich sehr lesenswert fand.

Zwar ging es mir primär einfach darum, dazu zu ermutigen, authentisch zu sein, sich zu zeigen, und die Konsequenzen zu ziehen, wenn jemand dieses authentische, echte Wesen nicht akzeptieren kann oder will. Es gibt jedoch sehr viele sehr unterschiedliche Situationen, auf die man meinen Text vor seinem geistigen Auge beziehen könnte, und man müsste gerade deshalb beim Punkt der „Trennung“ von Menschen weiter differenzieren.

Meine Absicht war es nicht, zu sagen, dass Anpassungsprozessen in Liebesbeziehungen, die „nicht-authentisch“ im Sinne von „nicht ganz offen und ehrlich“ begonnen haben (wie dies leider zu oft der Fall ist), nicht der nötige Platz und die erforderliche Zeit eingeräumt werden soll, was letztlich nur zu einer engeren Verbindung führen würde.

Deshalb danke ich Paul R. für seine Leserzuschrift, die ich an dieser Stelle veröffentlichen darf. (A. R.)

Wenn Menschen sich in Beziehungen so verhalten, wie sie denken, dass der Andere es erwartet, hat dies oftmals, meiner Meinung nach, erstmal nichts mit „sich nicht verletzlich machen“ zu tun.

Gerade am Anfang von Beziehungen versucht man durch diese Art der Interaktion, dem Anderen nicht auf die Füße zu treten, Harmonie und Zuneigung zu erzeugen. Ich denke, dass dies sinnvoll ist, auch, wenn dadurch im Laufe der Zeit größere Probleme auftreten können, wenn das „wahre Ich“ zum Vorschein kommt.

Im Grunde stimme ich zu: Verstellen, nicht so viele Gefühle zeigen, dem Gegenüber nicht wirklich sagen, was man denkt in prekären oder emotionalen Situationen; das sind alles Dinge, die Menschen tun, um sich zu schützen. Aber normalerweise verstellen sich Menschen, um den Anderen, die Beziehung zu schützen. Streits zu vermeiden, wie bereits gesagt, Harmonie zu erhalten.

Wenn dann aber die wirkliche Einstellung, der wahre Charakter durchkommt, dann weiß das Gegenüber oftmals nicht mehr, wen es wirklich vor sich hat. Durch das Verstellen, egal auf welcher Grundlage, hat der Andere sich ein falsches Bild gemacht. Entweder falsch positiv oder falsch negativ, es ist wohl Beides möglich und auch Beides parallel in ein und derselben Beziehung.

Du schreibst, man erfährt durch das sich verletzlich machen, wen man verlassen muss. Ich glaube, das kann man so nicht pauschalisieren. Wenn man dem Anderen über einen gewissen Zeitraum sein wahres Ich verschlossen hat, und gerade, wenn man dies getan hat, um sich zu schützen, dann braucht es auch seine Zeit, bis das Gegenüber das „neue Ich“ kennengelernt hat. Wie soll ein Mensch, der in dem Glauben war, seinen Partner zu kennen, sich so schnell umstellen, sich auf den „neuen“ Partner einstellen?

Ich beziehe mich jetzt ganz bewusst auf eine Liebesbeziehung, da man in allen anderen Arten wohl weniger vorschnelle Entscheidungen trifft, einfach, weil Freundschaften oft von anderer Konsistenz und die Beziehungen zu Familienmitgliedern nicht so schnell beendet werden (können?).

Ich fände es schade, den Menschen pauschal zu raten, dass sie ihre Partner verlassen sollen, weil sie sie trotz ihrer Offenheit/Ehrlichkeit/Verletzlichkeit verletzt haben.

In einer Beziehung, in denen sich zwei Menschen wirklich lieben, möchte keiner den Anderen verletzen. Es passiert dennoch. Niemals aus Böswilligkeit, eher aus Unwissen, Unreflektiertheit, weil man gerade viel Stress an der Arbeit hat; es gibt tausend Gründe. Das darf keine Rechtfertigung sein, niemals. Denn man sollte immer sehen, dass der Partner sich entschieden hat, sein Leben mit einem zu teilen und man deshalb Rücksicht nehmen sollte, auch, wenn es oftmals anstrengend ist.

Was ich mich frage ist: Wie soll der Partner den wahren Wert erkennen, wenn er längere Zeit einen anderen Menschen kennengelernt hat? Wie soll er sich so schnell umstellen, auf die neuen Bedürfnisse, Aussagen und Emotionen reagieren, Rücksicht nehmen?

Hast du daran gedacht, dass diese neue Verletzlichkeit/Offenheit dem anderen auch Angst machen kann? Eben aus jenen Gründen? Zwei Menschen, die sich lieben, wollen dem Anderen nicht schaden, aber wenn sie merken, dass da plötzlich ein anderer Mensch vor ihnen steht, der sich nun mit all seinen Facetten öffnet, meinst du nicht, dass dies auch Angst, Sorge und Stress im Partner auslösen kann? Denn er will den geliebten Menschen ja nicht verletzen, aber muss sich auch erstmal in ihn hineinversetzen, das Gesagte verarbeiten, sich selber und sein Verhalten reflektieren, um sich neu auf den Partner einzulassen.

Du schreibst, diejenigen die wirklich zählen, werden sich schützend vor den Anderen stellen, versuchen die Wunden zu heilen. Meinst du nicht, dass dies eine sehr große, schwierige Aufgabe ist? Man sieht den Partner nun im neuen Licht, allerdings ist schon so viel Zeit vergangen, dass sich bestimmte Bilder über den Anderen eingeprägt haben, man hat sein eigenes Päckchen mit Problemen, Ängsten und auch Verletzlichkeiten zu tragen. Und nun soll man die Wunden des Anderen heilen, man soll sofort den „neuen Wert“ erkennen und darauf reagieren.

Ich bin der Meinung, dass dies für die meisten Menschen nahezu unmöglich ist. Jeder, der den Anderen liebt, wird dies versuchen, natürlich. Aber dazu muss man alte Muster ablegen, sehr viel Rücksicht nehmen und auch wissen, wie der Partner, der sich nun verletzlich zeigt, auf gewisse Dinge reagiert. Nur, weil man sich dem Anderen mitgeteilt hat, weiß das Gegenüber ja nicht unbedingt, wie es sich verhalten muss, um einen nicht zu verletzen. Woher auch, wenn es wochen-,monate-, vielleicht sogar jahrelang anders lief.

Wenn du von Panzer sprichst, klingt das so, als wäre sehr viel verborgen geblieben in der bisherigen Zeit. Als würde man plötzlich sehr viel Angst, Traurigkeit und Verletzlichkeit zeigen. Wie bereits geschrieben, das wird auch im Partner Angst auslösen. Angst aus Liebe, eben weil man den Anderen ja in dieser Situation schützen möchte.

Ich frage mich, wie man das im realen Leben so schnell umsetzen soll, sodass, nach deiner Theorie, man dem anderen nicht wehtut. Wenn man einander wirklich öffnet, dann tut man dies zum Einen in der Überzeugung, dass der Andere einem das nicht zum Verhängnis macht, dass der Partner sein Bestes geben wird, um diese Offenheit zu würdigen und sie nicht „auszunutzen“. Sonst würde man es nicht tun.

Zum Anderen sollte man sich aber auch der Dinge bewusst sein, die ich oben beschrieben habe. Wenn man seinen Partner liebt und aus diese Liebe und diesem Vertrauen sein Herz öffnet, dann sollte man dies in dem Wissen tun, dass der Andere einem damit auch wehtun wird. Denn er wird nicht sofort in der Lage sein, alles zu verstehen, was man ihm mitgeteilt hat.

Man hatte das Vertrauen sich zu öffnen, dann sollte man, meiner Meinung nach, auch das Vertrauen haben, dass der Andere einem nichts Böses will. Und dass dennoch eben sowas passieren wird. Indem man so denkt, erspart man sich viel Leid, Misstrauen und, nach deinen Worten, letztlich eine Trennung aus überhöhten Erwartungen.

Natürlich kann man Rücksicht erwarten, wenn man seinen Panzer ablegt und den Anderen in seine Seele schauen lässt. Was man nicht erwarten kann ist, dass das Gegenüber sofort damit umgehen kann und keine Fehler machen wird. So wie man Aufrichtigkeit und Offenheit nun auch vom Anderen erwartet, sollte man auch Güte und Geduld zeigen.

Denn dann wird auch der Partner sein Innerstes offenbaren, er wird sich genauso öffnen und es wird ein ganz neues Kennenlernen geben, eine neue Vertrautheit, eine sehr innige Liebe. Daneben erstmal auch wohl viel Angst und auch die ein oder andere Verletzung. Aber das gehört dazu, wenn man sich einem anderen Menschen so voll und ganz öffnet. Kein Mensch wird sofort in der Lage sein, sich dementsprechend zu verhalten.

Ich bin mir nicht sicher, ob das rüberkommt, was ich sagen möchte. Also nochmal ganz kurz:

Ich finde Deinen Beitrag sehr bereichernd, aber auch sehr „gefährlich“, weil Du darin zu einer Trennung rätst, die darauf basiert, dass man einen Menschen ganz neu kennenlernt und sofort wissen soll, wie man sich verhalten muss, um den Anderen nicht zu verletzen.

Das, was in Deiner Theorie fehlt, ist Verständnis für den Partner. Du siehst nur den Menschen, der sich geöffnet und damit verletzlich gemacht hat. Aber nicht das Gegenüber, welches Angst vor dem neuen Ich des geliebten Partners hat, weil es eben genau das erwartet: Dass dieser sich trennt, weil man sich nicht schnell genug an die „neuen“ Bedürfnisse anpassen kann.

Sich voll und ganz verletzlich zeigen ist ein Prozess, genauso ist es ein Prozess, sich daran anzupassen.

Menschen, die behaupten, es dürfe dann keine Verletzung mehr geben, machen es sich zu einfach!
Denn auch die Menschen, die einander lieben, werden einander verletzen.
Das Ablegen des Panzers wird zu weniger Verletzung, weil zu mehr Verständnis und Aufmerksamkeit führen. Aber erstmal wird es wehtun.

Deswegen den Menschen verlassen, den man so sehr liebt, dass man sich eben so verletzlich zeigt, halte ich persönlich für den größten Fehler, den man dann machen kann. Man hat sich nicht ohne Grund dazu entschieden, all die Wunden, Ängste und Gefühle mit ihm zu teilen!

(…)

Authentizität ist ja generell etwas sehr wichtiges im Leben. Aber authentisch zu sein kann man nicht so ganz auf das übertragen, was du da geschrieben hast, meiner Meinung nach. Ich finde, deine Worte sind, wie bereits beschrieben, deutlich stärker. Sie zielen weniger auf Authentizität ab, als auf Offenheit und Ehrlichkeit in einem großen Maße. Authentisch ist man oftmals. Manchmal kommt es erst später, aber in jeder Beziehung, die man eingeht, die länger dauert, wird man automatisch authentischer. Es ist gar nicht möglich, das nicht zu werden, wenn man sich einander annähert (und da ist es egal auf welcher Ebene wir uns befinden). Daher finde ich persönlich nicht, dass man das gleichsetzen kann mit dem, was du meinst. Keiner kann sich so lang verstellen.

Dass man keine Zeit mit Menschen „vergeudet“ (ich finde das Wort im Bezug auf zwischenmenschliche Beziehungen nicht wirklich schön, aber weiß natürlich, was du meinst), die einen nicht so akzeptieren, wie man ist, finde ich auch schwierig. Ich kann verstehen, was du im Grunde sagen willst, aber ich finde, dass man auch an dieser Stelle differenzieren sollte. Wie oft war ich authentisch und habe im Laufe der Zeit/Beziehung festgestellt, dass mein authentisches Auftreten gar nicht das ist, welches ich gern zeigen möchte. Dass dieses Wesen zwar das ist, was ich momentan spüre und fühle, aber nicht das, was ich sein will. Denn Authentizität muss ja nicht unbedingt bedeuten, dass es gut ist, was man tut.

Ich finde, man darf niemals denken, dass das, was man tut, und sei es noch so authentisch, das einzig richtige ist. Damit will ich nicht sagen, dass du das tust. Aufgrund deiner ganzen Artikel gehe ich mal stark vom Gegenteil aus. Aber das, was in dem Beitrag steht und das, was du jetzt schreibst, klingt eben doch zu wenig differenziert (v.a. weil du in deinen anderen Beiträgen recht gut differenziert hast).

Was ich sagen möchte ist, dass ich glaube, dass Authentizität nicht damit einhergehen muss, dass Andere einen vollends so akzeptieren, wie man ist. Natürlich sollte man das Wesen des Gegenübers im Grunde akzeptieren können, aber ich bin auch der Meinung, dass man gerade an den Menschen wachsen kann, die eben nicht einfach alles hinnehmen, was man tut und sagt.

Ich für mich persönlich kann sagen, dass die Beziehungen (egal welcher Art), die von extremer Harmonie und Akzeptanz geprägt waren, zwar die einfachsten und unanstrengensten gewesen sind, aber am meisten gelernt habe ich in den zwischenmenschlichen Beziehungen, die meine Art herausgefordert haben. Die Menschen, die mich am meisten dazu gebracht haben, mein Verhalten und meine Gedanken zu reflektieren, das sind heute die Menschen, die mir am nächsten stehen. Denn diese Menschen haben mir aufgezeigt, dass nicht alles richtig ist, was ich für authentisch halte. Und dass auch Gewohnheiten nicht richtig sein müssen. Und fühlen sie sich noch so vertraut an. In diesen Beziehungen (und da denke ich sowohl an Partnerschaften, aber auch Familie und Freunde) ging es teilweise schon nicht mehr schön zu. Das ist natürlich auch nicht das Optimum, was man sich wünscht. Und wären die Menschen generell reflektierter und nicht so schnell verletzt, dann wären diese Diskussionen nicht so hart gewesen. Aber es war und ist okay. Denn gehalten hat es trotzdem.

Ich meine damit nicht, dass man seine Zeit mit Menschen verbringen sollte, die einen mutwillig verletzen, auf den Gefühlen herumtrampeln oder noch Salz in unsere, ihnen geöffneten Wunden, streuen. Aber ich muss sagen, dass ich in meinem ganzen Leben nur sehr sehr wenigen Personen begegnet bin, die das getan hätten. Und bei diesen Personen habe ich es sehr früh gemerkt. Kein Mensch, den ich näher an mich, mein Leben, meine Wünsche und Träume herangelassen habe, hat mich mutwillig verletzt.

Vielleicht bin ich auch naiv und sehe zu viel Gutes in den Menschen um mich herum. Aber ich halte meine Menschenkenntnis für gut genug, um sagen zu können, dass ich mich bisher niemandem geöffnet habe, bei dem ich es im Nachhinein bereuen musste. Natürlich gab es Personen, die mich zutiefst verletzt haben. Aber nicht, weil ich mich ihnen geöffnet und ihnen meine tiefsten Ängste offenbart habe und sie dies ausgenutzt haben. Sondern meistens, weil wir uns dann nicht genug Zeit und Toleranz gegeben haben. Ich bereue keinen dieser Momente, in denen man eigentlich ein flaues Gefühl im Magen hat, weil man weiß, dass man gerade etwas sagt, was der Andere gegen einen verwenden kann. Trotz meiner Zuversicht in die Menschen habe ich das ja dennoch. Und ich habe mich bisher von keiner Beziehung entfernt, weil ein Mensch nicht mit meiner „Art“ zurechtkam. Denn diese Menschen verschwinden sehr früh ganz von selbst. So gut kann man sich nicht über einen längeren Zeitraum verstellen.

Ich weiß nicht, ob das für dich jetzt wie ein Widerspruch geklungen hat. Was ich eigentlich sagen will ist, dass ich nicht daran glaube, dass ein Mensch, dem gegenüber man sich authentisch zeigt, einen damit nicht akzeptiert. Vielmehr denke ich, dass den Menschen, denen wir uns so öffnen, daran gelegen ist, noch mehr „aus und herauszuholen“. Was wir dann daraus machen und ob wir darin einen Angriff auf unsere Art und unser Wesen sehen, ist die andere Sache.

 

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