Persönlichkeitsentwicklung
4. August 2010

Perfektion und Schuldgefühle: Zwei mangelhafte Backsteine

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Zwei Steine hatten mir die ganze Mauer versaut. Der Zementmörtel war inzwischen fest geworden. Also konnte ich diese Steine nicht einfach herausziehen und ersetzen. Ich ging zu meinem Abt und fragte, ob ich die Mauer niederreißen oder in die Luft jagen und neu anfangen dürfte. »Nein«, erwiderte der Abt, »die Mauer bleibt so stehen, wie sie ist.«

Als ich die ersten Besucher durch unser neues Kloster führte, vermied ich es stets, mit ihnen an dieser Mauer vorbeizugehen. Ich hasste den Gedanken, dass jemand dieses Stümperwerk sehen könnte. Etwa drei oder vier Monate später wanderte ich mit einem Gast über unser Terrain. Plötzlich fiel sein Blick auf meine Schandmauer.

»Das ist aber eine schöne Mauer«, bemerkte er wie nebenbei. »Sir, erwiderte ich überrascht, »haben Sie etwa Ihre Brille im Auto vergessen? Oder einen Sehfehler? Fallen Ihnen denn die zwei schief eingesetzten Backsteine nicht auf, die die ganze Mauer verschandeln?«

Seine nächsten Worte veränderten meine Einstellung zur Mauer, zu mir selbst und zu vielen Aspekten des Lebens. »Ja«, sagte er. »Ich sehe die beiden mangelhaft ausgerichteten Backsteine. Aber ich sehe auch 998 gut eingesetzte Steine.«

Ich war überwältigt. Zum ersten Mal seit drei Monaten sah ich neben den beiden mangelhaften Steinen auch andere Backsteine. Oberhalb und unterhalb der schiefen Steine, zu ihrer Linken und zu ihrer Rechten befanden sich perfekte Steine, ganz gerade eingesetzt. Ihre Zahl überwog die der schlechten Steine bei weitem.

Bis dahin hatte ich mich ausschließlich auf meine beiden Fehler konzentriert und war allem anderen gegenüber blind gewesen. Deshalb konnte ich den Anblick der Mauer nicht ertragen und wollte ihn anderen Menschen auch nicht zumuten. Deshalb hatte ich das Werk vernichten wollen. Doch als ich jetzt die ordentlichen Backsteine betrachtete, schien die Mauer überhaupt nicht mehr grauenvoll auszusehen. Der Besucher hatte schon Recht: Es war wirklich eine sehr schöne Mauer.

Jetzt, zwanzig Jahre später, steht sie immer noch, und inzwischen habe ich längst vergessen, an welcher Stelle die mangelhaften Backsteine stecken. Ich kann sie mittlerweile tatsächlich nicht mehr sehen.


Diese Geschichte stammt aus Ajahn Brahms wundervollem Buch „Die Kuh, die weinte. Buddhistische Geschichten über den Weg zum Glück.“ Das Buch ist im Lotos Verlag erschienen, kostet 15,99 Euro bei 239 Seiten und hat die ISBN 978-3778781838.

Copyright © Ajahn Brahm 2004, 2008

 

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